Politiker gebärden sich als ihre Erfüllungsgehilfen: Dabei bleibt viel Vernunft auf der Strecke
text | Reinhard K. SPRENGER
Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. So lautet das neue Credo im Zeichen von Corona. Doch verbergen sich hinter der neuen Beschwörung von Alternativlosigkeit gleich mehrere folgenreiche Denkfehler.
Was man nicht rechnen kann, muss man entscheiden. Die Milchglasscheibe, der offene Ausgang, die unkalkulierbare Konsequenz, das ist es, was zur Entscheidung drängt (im Unterschied zur Wahl, die sich fakten- oder wertbasiert zu einer Seite neigt). Führung zieht ihre Existenzberechtigung aus genau diesen dilemmatischen Situationen – wenn es gute Gründe für die eine Seite gibt und gute Gründe für die andere. Im strengen Sinne weiss man erst im Nachhinein, was man entschieden hat. Führungskräfte sind, so gesehen, Krisenparasiten.
Häufig sind sie jedoch nicht auf der Höhe der Komplexität, die zu bewältigen sie bezahlt werden. Dann ziehen sie Berater herbei, die so lange Daten sammeln, bis die Dinge eindeutig und konfliktfrei scheinen. Also nicht mehr entschieden werden müssen. Das entlastet. Der Preis dafür ist Verantwortungsdiffusion bis hin zur Delegitimierung der Führung.
Genau das passiert gerade im grossen Massstab. Die Politik hat abgedankt, Virologen regieren die Welt. Man mag diese Differenzierung für spitzfindig halten. Aber Politiker treten bevorzugt in Begleitung von Wissenschaftern auf und begründen ihre Massnahmen mit dem Verweis auf Forschungsergebnisse. «Alternativlos!» signalisiert das, der Konflikt zwischen Freiheit und Gesundheit ist moralisch vorentschieden, Widerspruch ist tabu. Man kann sich ja gar nicht genug fürchten. Schnell wird vergessen, dass wir Menschen uns zwar dem Sachzwang beugen können, aber nicht beugen müssen. (...)