text | Reto U. SCHNEIDER
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Als Alice Hollenstein das hässlichste Gebäude der Schweiz erblickt, sagt sie: «Hoppla.» Der 15geschossige Betonturm beim Triemlispital in Zürich sieht ein bisschen aus wie ein Grabstein für Riesen. Hollenstein ist Architekturpsychologin beim Center for Urban & Real Estate Management der Universität Zürich und beschäftigt sich mit der Wirkung von Architektur auf das Wohlbefinden der Menschen. Und dazu trägt das ehemalige Personalhaus des Spitals nicht viel bei. «Das Gebäude weckt die Assoziation, dass man als Mensch kein Individuum ist, sondern bloss Teil einer Masse», sagt Hollenstein, während sie die 43 Meter hohe Fassade vergeblich nach einem Zeichen von Vielfalt absucht. Das Hochhaus ist aus gutem Grund die letzte Station unseres Stadtrundgangs auf der Suche nach den Regeln der Schönheit in der Architektur. Im Sommer 2018 ist es nämlich von 19000 Lesern der Pendlerzeitung «20 Minuten» zum hässlichsten Haus der Schweiz gekürt worden. Seinen Architekten Rudolf Guyer schien die Kritik nicht zu kümmern. «Dass Laien das Gebäude hässlich finden, ist mir egal. Hauptsache, den anderen Architekten gefällt es», sagte er einige Tage nach der Wahl.
Dass Schönheitsurteile von Laien und Experten auseinanderklaffen, ist nicht ungewöhnlich. Doch nirgends hat es grössere Folgen als in der Architektur. Sie drängt sich den Menschen in einer Weise auf, die sie von jeder anderen Form von Design unterscheidet. Das Hochhaus beim Triemli wurde 1966 gebaut. Was immer sein Architekt damals für richtig hielt, müssen Passanten jahrzehntelang ausbaden.
Noch heute entscheiden selbst bei Gebäuden, die der Steuerzahler finanziert, Experten über die Projekte. Wie im 19.Jahrhundert bestimmt eine kleine Elite darüber, was als schön gilt. Und wenn das Volk das anders sieht, muss es halt entsprechend erzogen werden. So forderte der Leiter der Kommunikation des Schweizer Heimatschutzes, Peter Egli, nach dem Artikel in «20 Minuten» nicht etwa eine andere Architektur, sondern «bessere Bildung im Bereich Baukultur für alle!».
Warum bloss hat in diesem Fall der sonst so zuverlässige Mere-Exposure-Effekt nicht gewirkt? 54 Jahre hätten doch reichen sollen, damit die Menschen sich an den grauen Block gewöhnen. Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits kann der Mere-Exposure-Effekt seine Macht nur ausspielen, wenn der erste Eindruck nicht negativ ist. «Wenn mich ein Hund jedesmal beisst, wenn ich ihn sehe, werde ich mich nicht an ihn gewöhnen», sagt Hollenstein. Guyers Hochhaus ist offenbar eine Art bissiger Hund der Architektur.
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Wie sich Laien und Experten auseinanderleben, zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2011. Sie ermittelte, wie sich die Schönheitsurteile von Architekturstudenten abhängig von ihrem Ausbildungsjahr unterscheiden. Die Therme Vals von Peter Zumthor etwa legte auf einer Notenskala von eins bis sechs kontinuierlich einen ganzen Punkt zu, während andere Gebäude einen Punkt oder mehr verloren. Von den sechs untersuchten Universitäten neigten die Studenten der ETH am Ende des Studiums zu den stärksten Abweichungen vom Laienurteil. Man hatte ihnen ihr intuitives Schönheitsideal gründlich ausgetrieben. Vergessen hatten sie es aber nicht, kam doch eine andere Studie zum Schluss, dass «Architekten das Urteil von Nichtarchitekten relativ adäquat vorhersagen können». Oft wissen sie also, dass sie Häuser bauen, die den Menschen nicht gefallen.
Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Auch gegen den Eiffelturm formierte sich 1887 Widerstand. Der Protest von Intellektuellen begann mit dem Satz: «Wir Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Architekten und leidenschaftliche Liebhaber der bisher unangetasteten Schönheit von Paris protestieren im Namen des verkannten französischen Geschmacks mit aller Kraft gegen die Errichtung des unnötigen und ungeheuerlichen Eiffelturms im Herzen unserer Hauptstadt.» Lange Zeit war unsicher, ob das heutige Wahrzeichen von Paris wieder abgerissen würde.
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