Die Händler der indischen Stadt Surat, der größten Hafenstadt des Mogulreichs, waren den Europäern lange Zeit überlegen, sagt der Historiker Sanjay Subrahmanyam. Ihr Erfolg werde im heutigen Indien zu wenig beachtet.
INTERVIEW: Eric Frey
Standard: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach Ihrer Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert. Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte. Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten, einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder niederlassen.
Standard: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
Standard: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol rund um Afrika.
Standard: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende Gebiete.
Standard: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
Standard: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
Standard: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist. (...)