text ANDREA KÖHLER

 

Die USA schlagen das nächste Kapitel in der Sexismus-Debatte auf. Soll man Künstler und Kunstwerk auseinanderhalten?

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Die Frage ist nicht so absurd, wie sie klingt, wurde die Forderung doch jetzt bei einem anderen Bild im selben Museum laut: beim 1938 entstandenen Gemälde «Thérèse rêvant» von Balthus, einem jener allerdings ungeschminkt voyeuristischen Mädchenporträts, die den Maler von Kindern auf der Schwelle zur Pubertät schon immer dem Verdacht der Pädophilie aussetzten. Es ist dies ein nicht nur von ihm selbst, sondern zuweilen auch von Kunsthistorikern bestrittener Verdacht, der direkt ins Zentrum der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte im Umfeld der schönen Künste führt: Sind die Kunstwerke für die sexuellen Neigungen ihrer Schöpfer zu verurteilen?

 

Der Fall Balthus beschäftigte die New Yorker Öffentlichkeit schon vor vier Jahren, als das Metropolitan Museum unter dem niedlichen Titel «Girls und Cats» eine grosse Retrospektive dieses Motivs ausrichtete; die Ausstellung wurde von einer Polaroid-Dokumentation in der Gagosian-Galerie begleitet. Die explizit sexuelle Natur sowohl dieser Fotografien als auch der Gemälde kann nur ein Blinder bestreiten wollen. Genauer gesagt: Es geht in Balthus’ Gemälden um nichts anderes als den – nicht selten direkt zwischen die Beine – gelenkten erotischen Blick.

 

Man mag diese Bilder anstössig finden, sie haben in ihrer zwischen Begehren, Unschuld und Obszönität changierenden Mischung eine abgründige Faszination. Das Merkmal von Kunst ist Ambivalenz, und dazu gehört auch das Verstörende, Grausame, Unappetitliche. Das heisst nicht, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Doch trifft die erotische Motivierung des voyeuristischen Blicks auch auf viele Madonnen-Darstellungen zu, deren milchweisse Brüste durchaus nicht nur den mütterlichen Instinkt ansprechen. Der Moment, wo die Forderung laut wird, die Mutter Gottes vor den lüsternen Blicken der Museumsbesucher zu schützen, scheint derzeit nicht mehr weit.

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