text BYUNG-CHUL HAN
(24,25) (…)
Sowohl die mythische als auch die geschichtliche Zeit besitzen eine narrative Spannung. Eine besondere Verkettung von Ereignissen gestaltet die Zeit. Die Erzählung lässt die Zeit duften. Die Punkt-Zeit ist dagegen eine Zeit ohne Duft. Die Zeit beginnt zu duften, wenn sie eine Dauer gewinnt, wenn sie eine narrative Spannung oder eine Tiefenspannung enthält, wenn sie an Tiefe und Weite, ja an Raum gewinnt. Die Zeit verliert ihren Duft, wenn sie jeder Sinn- und Tiefenstruktur entkleidet wird, wenn sie atomisiert wird oder sich verflacht, verdünnt oder verkürzt. Gerät sie ganz aus der sie haltenden, ja verhaltenden Verankerung, so wird sie haltlos. Gleichsam aus der Halterung gelöst, stürzt sie fort. Die Beschleunigung, von der heutzutage viel die Rede ist, ist kein Primärprozeß, der nachträglich zu unterschiedlichen Veränderungen der Lebenswelt führte, sondern eine Symptom, ein Sekundärprozess, nämlich eine Folge der haltlos gewordenen, atomisierten Zeit, einer Zeit ohne jede verhaltene Gravitation. Die Zeit stürzt fort, ja überstürzt sich, um einen wesentlichen Mangel an Sein auszugleichen, was ihr jedoch nicht gelingt, denn die Beschleunigung allein erzeugt keinen Halt. Sie läßt vielmehr den vorhandenen Mangel an Sein nur noch penetranter erscheinen.
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>> „Duft der Zeit“, ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Byung-Chul Han, 2009 transcript Verlag, Bielefeld