Was passiert, wenn Knappheit selber knapp wird? Wir erleben derzeit das Ende der Narrationen, die unsere aufgeklärte Demokratie und Volkswirtschaft von innen getragen haben. Gastkommentar von Fritz Breithaupt und Martin Kolmar
«Du bist der Held deiner eigenen Geschichte.» Der Optimismus des Mythenforschers Joseph Campbell in seinem Satz von 1949 klingt heute wie ein unerreichbarer Anspruch. Wo ist die Geschichte, in der ich als Held auftreten kann? Wo sind die erzählerischen Angebote unserer politischen Ordnung, die Platz für uns haben?
Wenn wir die grossen, ökonomisch-politisch wirksamen Narrative der Vergangenheit anschauen, zeigt sich, dass eine Mehrzahl Geschichten des Mangels und der Abwesenheit waren. Ökonomisch gewendet waren es Erzählungen der Knappheit. Ein Held ringt mit dem Schicksal, um einen Mangel auszugleichen und das Glück zu erringen. In den Robinsonaden und Utopien musste aus einer kleinen Welt ohne Zivilisationsgüter eine neue Welt gebastelt werden.
Besonders wirkungsmächtig war die Narration der protestantischen Ethik. Weil man nicht wusste, wie Gott am Jüngsten Tag richten würde, forderten sich die frühen protestantischen Helden vorsichtshalber in allen heiklen Verhaltensweisen Enthaltsamkeit ab. Die auf das Jenseits verlegte Darstellung wurde, so Max Weber, dann auch auf das Diesseits gelenkt. Auch im Wirtschaften versagten sich die Protestanten schnelle Wunscherfüllung, sie arbeiteten hart und sparten. Anders gesagt: Sie zwangen sich dazu, die Güter als knapp zu sehen, und erhoben Askese zur Struktur ihres Handelns.
Das Paradox der Demokratie
Narrationen der Fülle haben einen Ausnahmecharakter und verweisen damit zurück auf Erzählungen der Knappheit als Grundstruktur. Dies geschieht in der Vision des Schlaraffenlands, aber auch den Eskapaden des feudalen Adels, der sich im Gegensatz zum Volk durch Verschwendung definiert. Gerade in diesen Erzählungen zeigt sich, dass der Inhalt der Knappheitsgeschichten die menschliche Arbeit war.
Doch was passiert, wenn Knappheit selbst knapp wird? Es ist ja eigentlich ein Treppenwitz: Wir nähern uns einer Welt an, in der Menschen von der Last unangenehmer Arbeit mehr und mehr entlastet werden können. Auch wenn es nicht der Wahrnehmung aller Menschen entspricht, präsentieren sich unsere westlichen Demokratien als erstaunlich gesättigt. Knappheit scheint eher ein Verteilungs- als ein Mengenproblem zu sein. Und dennoch: Was einmal als Utopie erschien, verwandelt sich zunehmend in eine Dystopie von Arbeits- und Sinnlosigkeit und den Grenzen des quantitativen Wachstums. (...)
In den Geschichten der Knappheit waren Lebenssinn und Wertschätzung an den Produktionswert geknüpft: Wir verdienen, was wir verdienen. Arbeit erlaubte nicht nur einer Elite Selbstverwirklichung, sondern prinzipiell allen. Doch mit einer Überwindung materieller Knappheit ist das gesamte Narrativ dysfunktional. Ohne materielle Knappheit funktioniert auch die Narration der protestantischen Ethik nicht mehr – insbesondere auch, weil in zunehmend säkular werdenden Gesellschaften keine Belohnung in der Ewigkeit mehr zur Verfügung steht. Sie wird höchstens noch zu einem sonderbaren mentalen Akt, sich künstlich zur Annahme von Knappheit zu zwingen. (...)