text ROBERTO SIMANOWSKI

 

In der Mehrdeutigkeit liegt die Kraft

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Diese Worte des deutschen Dichters Hölderlin aus dem Jahre 1803 bilden einen guten Satz, um einen Text über die nun überall empfundene Bedrohung durch den Populismus zu beginnen.

 

Es ist ein guter Satz, nicht weil er den üblichen Aufruf, die Demokratie zu verteidigen, mit der nötigen Portion an Optimismus ausstattet, sondern weil er selbst schon den Kampf austrägt.

 

Es ist ein Satz, der einen Widerspruch als Maxime ausgibt: Die Gefahr ist gleichsam das Rettende. Und es ist ein Satz mit ungewissen Wörtern: Was genau bedeutet Gefahr und was Rettung? Und wie ist das Wachsen gemeint? Der Satz mag mit seiner Auskunft beruhigen, kommunikationspsychologisch verunsichert er durch seine Mehrdeutigkeit. Er bringt die Gefahr des Missverstehens mit sich. Genau darin liegt das Rettende, wenn es um den Populismus geht. Denn die Gefahr, die der Populismus bedeutet, ist das Schwarz-Weiss-Denken. Es gibt das Volk, das die Populisten zu vertreten vorgeben, und die Elite, gegen die sie das Volk schützen müssen. Es gibt die Guten und die Bösen. Es gibt Gefahr auf der einen, Rettung auf der anderen Seite.

 

Eindeutigkeit ist eine Illusion

 

Die Ein- und Ausschliessungen des Populismus basieren auf einer Homogenitäts- und Eindeutigkeitsillusion. Es fehlen die Zwischentöne und Schattierungen, wenn es um Zuordnung geht oder um Werte und Argumente. Es fehlt die Mehrdeutigkeit, die ein Satz wie dieser aus Hölderlins Hymne «Pathos» mit sich bringt – und die der Hymne insgesamt eigen ist, allen Gedichten Hölderlins, der Dichtung, der Sprache. Aber eben nicht der Mathematik.

 

Die symbolische Form des Populismus ist die Mathematik, und zwar zunächst in ihrer reduzierten Form als 0 und 1, dem binären Grundmodell der digitalen Medien. Dass der Populismus gerade in diesen Medien (denen wir heute das Wort «Filterbubble» verdanken) so erfolgreich ist, liegt nicht daran, dass die Kommunikation hier im 0/1-Modus steckenbliebe. Aber die meisten Interaktionen in sozialen Netzwerken sind durchaus genau dies: keine sprachlichen Kommentare oder gar poetischen Anrufungen, sondern Ja/Nein-Entscheidungen.

...

 

>> Weiterlesen auf der Website „Neue Züricher Zeitung“