Gastkommentar von Konrad Paul Liessmann
Es liegt im Wesen einer auf technologischen Fortschritt gebauten Gesellschaft, dass sie sich für unverwundbar hält. Die Corona-Pandemie aber macht unserem Machbarkeitsglauben einen dicken Strich durch die Rechnung.
Die oft gestellte Frage, was das Virus mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben, macht, war immer schon falsch formuliert. Richtig müsste sie lauten: Wie reagieren wir auf die pandemische Bedrohung? Eine naheliegende, aber selten gegebene Antwort wäre: Wir sind gekränkt. All das, was die moderne Gesellschaft im vergangenen Jahr durchmachen musste, war in ihrem Fortschrittsprogramm nicht vorgesehen. Dieses orientierte sich an Parametern wie Wachstum, Beschleunigung, Optimierung, Sicherheit, Offenheit und Austausch. Seuchen gab es höchstens in Weltgegenden, die weder die europäischen Hygiene- und Gesundheitsstandards noch das unbedingte Vertrauen in eine aufgeklärte Wissenschaft kannten.
Dass ein Virus die Dynamik einer technologisch hochgerüsteten Gesellschaft bremsen, ja ausser Kraft setzen kann, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Und dass nicht nur die vollmundigen Versprechungen der Trendforscher, sondern auch die besorgten Aufrufe der Klimaschützer von eher exotischen Begriffen wie Lockdown, Virenlast, Inzidenz, Übersterblichkeit, Superspreader, Maskenpflicht und Abstandsregel verdrängt wurden, hat den Nerv einer Gesellschaft getroffen, die wähnte, andere Sorgen zu haben.
Mit Recht ist angemerkt worden, dass wir dem Virus lange nichts anderes entgegenzusetzen wussten als jene Massnahmen, die schon die Seuchenbekämpfung des Mittelalters gekennzeichnet hatten: Absonderung, Kontaktvermeidung, Desinfektion. Schlimmeres, als in solch finstere Zeiten zurückgestossen zu werden, kann einer Zivilisation nicht passieren, die überzeugt davon ist, technisch und moralisch alle vergangenen Epochen überflügelt zu haben.
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