text PAUL ANDREAS
Der chinesische Architekt Wang Shu rettet bewährte Traditionen in seine modernen Bauten
Neue Architektur in China – das war in den letzten dreissig Jahren vor allem eine grosse Abriss-Show: Die mit dem Wirtschaftswachstum im Gleichschritt wachsende neue Mittelklasse wurde in oft seelenlosen Funktionsstädten untergebracht, die quasi über Nacht aus dem Boden gestampft wurden. Einige entstanden mitten im Niemandsland – die meisten aber auf den Trümmern oft über Jahrhunderte gewachsener Siedlungen und Kulturlandschaften. Das Bauen mit der Abrissbirne galt lange als Standardantwort auf Architekturtraditionen und daran geknüpfte soziale Identitäten.
Vor fünf Jahren bekam Wang Shu den renommierten Pritzkerpreis verliehen – als erster in China ausgebildeter und dort auch wirkender Architekt. Er wurde damit für ein überschaubares Œuvre geehrt, das jedoch durch seine kulturelle Eigen- und Widerständigkeit überzeugt: Anders als viele seiner chinesischen Kollegen, aber auch viele globale Stars, die sich in China in ihren Bauten oft an vage Formmetaphern klammern, knüpft der Architekt aus Hangzhou, der einstigen Kaiserstadt Südchinas, bei den konkreten Orten und dem lokalen Kontext seiner geplanten Bauten an. Sowohl in der Material- als auch in der Formensprache flimmern dabei die unter der «Planiermoderne» oft verschütteten autochthonen chinesischen Bau- und Handwerkstraditionen wieder auf – ohne dass dabei gegenwartsvergessene Imitate und kitschige Surrogate entstünden. (...)
Chinesische Landschaftsmalerei eröffnet Blicke auf die Natur, die im Gegensatz zur vereinheitlichenden westlichen Zentralperspektive in einer topologischen Struktur paralleler Perspektiven verankert sind: Die Berg- und Flussmotive in der Tuschmalerei werden aus unterschiedlichen Nah- und Fernsichten und damit zusammenhängenden emotionalen Geisteszuständen der Versenkung dargestellt – oft sind es Wolken und Nebelschwaden, die die Übergänge zwischen diesen in der Vertikalen angeordneten Welten herstellen.
Dieser Raumstruktur des Disparaten spürt auch Wang Shu in seinen Bauten nach – etwa wenn er wie im 2013 eröffneten Wa-Shan-Gästehotel des Xeishan-Campus die Funktionen in Sichtbeton-Boxen unter einem gigantischen Faltdach versammelt, das von einer überstehenden, wolkenartigen Holzsparrenkonstruktion getragen wird. Der Besucher wird von den labyrinthisch durch das Gebäude mäandrierenden Erschliessungswegen immer wieder an unerwartet pittoreske Aussichtspunkte geführt – abseitige Platzsituationen, Wasserbassins, Durchsichten in die Natur –, bis er dem langgestreckten Bau gar aufs Dach steigt: Eine über das Ziegeldach im Zickzack geführte Gangway macht die Neigungen und Steigungen physisch erlebbar und setzt sie in kontextuelle Beziehung zu den Hügeln am Horizont. (...)