text Giuseppe Gracia
In den westlichen Metropolen weht der Zeitgeist in die linke Richtung, mit grüner Fahne. Persönliche Freiheit und Selbstverantwortung gelten als Prinzipien der Vergangenheit. Nun ist die Rede von erzwungener Solidarität. Ob Klimakrise, Pandemiekrise, Demokratiekrise oder Geschlechtergerechtigkeit: Statt auf mündige Menschen setzt man lieber auf einen Staat als Vormund. Gesetze, Verbote, Quoten.
Aber eigentlich hatte die persönliche und politische Freiheit schon immer einen schweren Stand. Denn Freiheit ist kein Instinkt. Freiheit ist ein Wert, eine innere Haltung, das Ergebnis erfolgreicher Selbsterziehung. Eine Kultur der Mündigen und Selbständigen setzt Arbeit und Disziplin voraus – einen beharrlichen Willen zur Förderung der persönlichen Unabhängigkeit.
Das entspricht nicht dem menschlichen Instinkt. Rein anthropologisch gesehen sucht der Mensch nicht die Risiken der Freiheit auf der Wildbahn, wenn er nicht muss, sondern die Nestwärme, das Sicherheitsgefühl in der Horde. Der Mensch will behütet sein. Er will, dass jemand sich um ihn kümmert. Daher die anhaltende Anziehungskraft sozialistischer Modelle mit dem Versprechen, dass der Staat sich kümmert. Dass der Staat die Gefahren von Freiheit und menschlicher Willkür zu bannen vermag, kraft einer höheren Autorität.
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Nestwärme und Herdentrieb kommen aus der Angst des Menschen vor den Risiken des Lebens. Diese Angst macht sich der Sozialismus zunutze. Der Sozialismus – wie auch immer er sich gerade nennt oder tarnt – setzt auf Zwang und Konformismus. In Anlehnung an die Religionskritik von Karl Marx könnte man sagen: Sozialismus ist das Opium der Ungläubigen. Genauer: das Opium der Ungläubigen in Bezug auf die Freiheit des Einzelnen.
Diese Ungläubigen suchen das Heil in einem Staat als Superinstanz, die alles lenkt, umverteilt, sanktioniert. Ein wenig wie bei einer langen, kollektiven Adoleszenz. Das passt zu manchen links-grünen Programmen, die so klingen, als kämen sie aus der Gedankenlandschaft von Jugendlichen, die im Heim ihrer wohlbestallten, kapitalistischen Eltern wohnen, wo sie alle Privilegien und Vorteile geniessen – und deshalb keine Hemmungen haben, anderen, weniger behüteten Mitmenschen Verzicht und Verbote aufzuerlegen. Jugendliche, die zugleich ihre erfolgreichen Eltern anklagen und verantwortlich machen für ein unmoralisches Leben.
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Im Gegensatz dazu ist die persönliche Unabhängigkeit eine Frucht der Bereitschaft, sich selber in die Pflicht zu nehmen. Eine Frucht der persönlichen Reife. Der katholische Philosoph und Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) formuliert es so: Freiheit ist ein «steigender Selbstbesitz». Frei werden bedeutet, sich selber besitzen zu lernen. Um eines Tages so zu handeln, wie man es wirklich will und vernünftig findet, statt nur den eigenen Antrieben zwischen Angst und Lust zu folgen. Dabei besitzt sich der Mensch natürlich niemals ganz (denn das ist nach Thomas von Aquin allein Gott vorbehalten). Aber er arbeitet ein Leben lang an der Steigerung des Selbstbesitzes.
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