Der Verlust der Mitte
text PETER BÜRGER
Die moderne Gesellschaft befindet sich – wie einst die Epoche des Manierismus – in einer Krise, die die Vorstellung eines sich automatisch vollziehenden Fortschritts hat fragwürdig werden lassen.
Walter Benjamins Gedanke, dass es eine geheime Korrespondenz von Epochen gebe, ja dass es einer jeden aufgegeben sei, eine Deutung der ihr korrespondierenden vergangenen zu finden, zu der nur sie den Schlüssel besitze, dieser Gedanke mag spekulativ sein; aber er enthält eine Anweisung, wie man der Ödnis einer archivalischen Geschichtsschreibung entkommen kann, die den lebendigen Bezug zur eigenen Gegenwart verloren hat. Gerade angesichts der Krise des geschichtlichen Denkens, die wir gegenwärtig erleben, kommt dem Benjaminschen Gedanken eine nicht zu überschätzende Bedeutung zu. Kann er uns doch helfen, eine Vorstellung von Gegenwart zu überwinden, die in der Aneinanderreihung von Jetztpunkten aufgeht. (...)
Es besteht kein Grund, die immanente Krise des Konzepts des künstlerischen Fortschritts, auf der Gombrich insistiert, von der Krise des Renaissance-Humanismus zu trennen, in der Arnold Hauser die Ursache des Manierismus sieht; vielmehr dürfte gerade das Zusammentreffen beider zum Entstehen der neuen Malerei beigetragen haben.
Auch die moderne Gesellschaft befindet sich seit geraumer Zeit in einer tiefgreifenden Krise, die die Vorstellung eines sich gleichsam automatisch vollziehenden Fortschritts hat fragwürdig werden lassen. Spätestens seit den ersten alarmierenden Berichten des Club of Rome Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts über die weltweit abnehmenden Ressourcen sind die Grenzen eines Wirtschaftssystems deutlich geworden, das einen verschwenderischen Umgang mit nicht ersetzbaren Energiequellen betreibt. In beiden Epochen verschafft das Bewusstsein einer Krise der eigenen Welt, dem keine konkreten Handlungsperspektiven entsprechen, sich Ausdruck im Habitus der Menschen.
So kann man die Formen autistischen Verhaltens, die sich heute immer häufiger beobachten lassen, wo Menschen aufeinanderstossen, die geradezu aggressive Verleugnung der physischen Gegenwart des andern, in den Bildern der Manieristen wiederfinden. (...)