interview MAIK NOVOTNY
Die indische Architektin Anupama Kundoo entwickelt ressourcenschonende Materialien für den Selbstbau. Wie man aus lokalen Traditionen ganz ohne Lehmhüttenromantik etwas Neues schafft, erklärt sie im Interview.
Sie pendelt zwischen Indien und Spanien, sie sorgte auf der Architekturbiennale in Venedig 2016 mit ihrem Selbstbauhaus aus bunten Faserbetonplatten für Aufsehen. (...) Mit dem STANDARD sprach sie über die Wohnungskrise und die Dualität von Tradition und Innovation.
Standard: Sie sprechen in Wien bei einem Symposium zum Thema Wohnbau. Wo sehen Sie die globalen Herausforderungen, wenn es ums Wohnen geht?
Kundoo: Wir befinden uns zurzeit in einer extremen Krise auf allen Ebenen: Die Umwelt ist in Schieflage, der soziale Zusammenhalt ist bedroht, und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die Wohnungsfrage war bis vor kurzem keines dieser Probleme. Fragt man ein Kind, was „Wohnen“ ist, sagt es: ein Zuhause. Fragt man heute einen Erwachsene, sagt er: eine Investition. Früher wohnte man eben und verdiente sein Geld für die anderen Lebenshaltungskosten. Heute nehmen Investoren und Bewohner riesige Bankkredite auf, und die Banken, die davon profitieren, tun so, als ob sie ihnen damit einen Gefallen tun. Noch dazu sind die Standards im Wohnungsbau so hoch geworden, dass günstige traditionelle Baumethoden gar nicht mehr zulässig sind. Das betrifft längst nicht mehr nur die Armenviertel. Wenn sich selbst die, die einen guten Job haben, das Leben in Städten nicht mehr leisten können, dann läuft etwas grundsätzlich falsch.
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Kundoo: Viele Gebäude vermitteln heute kaum noch ein Gefühl für den Ort, an dem sie stehen. Ob in Singapur oder Dubai, man sieht immer dieselben Glastürme. Je mehr sich die Städte global entwickeln, desto mehr Glastürme gibt es, weil diese Städte sich nicht auf ihre Tradition besinnen. Aber wie toll wäre es, wenn man an einem Ort die Verbindung zwischen der Kultur und ihren Baumaterialien erkennt! Die Fähigkeiten der Leute haben sich aus dem entwickelt, was in der Region vorhanden war, und daraus können wir eine Architektur erzeugen, die an ihrem Ort verwurzelt ist.
Standard: In der Architektur wird immer öfter über Social Design geredet. Fühlen Sie sich in dieser Kategorie zu Hause?
Kundoo: Architektur ist nicht Sozialarbeit. Wenn mein Ziel Sozialarbeit ist, gebe ich den Bedürftigen einfach direkt das Geld. Ich sehe mich eher in der klassischen Rolle der Architektin, und dazu gehören Technologie und der richtige Umgang mit Ressourcen. In Indien wohnt ein Sechstel der Weltbevölkerung, aber wir verfügen nur über 2,4 Prozent der Landmasse. Das heißt, der Boden ist unser kostbarstes Gut. Wenn europäische Architekten den Energiebedarf ihrer Häuser um 25 Prozent senken, nennt man das ökologisch. Aber wenn wir diesen Verbrauch auf Schwellenländer übertragen, bräuchten wir sechs oder sieben Planeten. Das heißt, was wir heute ökologisch nennen, ist nicht ökologisch genug. Wir müssen viel sparsamer mit Ressourcen umgehen, und dazu brauchen wir eine Balance zwischen Hightech und Lowtech.
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foto: Eleganz aus Zement und Maschendraht: Mit dem von Kundoo entwickelten Baukastensystem Full Fill Homes kann ein Zuhause binnen fünf Tagen errichtet werden. Die Wände dienen gleichzeitig als Stauraum.
foto: Hightech meets Lowtech: Das Wall House im indischen Auroville ist nicht nur das eigene Wohnhaus von Anupama Kundoo, sondern auch Experimentierlabor für ihre Forschung an neuen Materialien.
foto: Anupama KUNDOO